Wenn einer eine Reise tut.

Wehret den Anfängen. Scheiß Technik. Da denkt man, man kann gemütlich in der Bahn sitzen und auf dem Laptop, dafür ist es schließlich da, gemütlich an dem Tagebuch schnitzen. Aber nein, es sollte nicht sein. Von wegen, Strich durch die Rechnung durch die Technik, für die man teures Geld bezahlt hat. Ein Officepaket sollte es sein, dass man nie wieder ständig neu installieren, kaufen oder aktualisieren muss. Sozusagen Office ToGo, monatlich finanziert. Es könnte so einfach sein. Doch unterwegs benutzen, ohne WLan, ohne aktive Internetverbindung, das ist dann nicht mehr möglich. WTF!?! Ok, dann simple und einfach mit dem ordinären Texteditor arbeiten. Wie primitiv ist das denn?

Es beginnt immer mit dem Vorsatz. Nicht mit dem Wunsch, der ist zwar oft der Vater des Gedankens, aber diesmal ist es die Mutter, die ruft. Und braver Sohn gehorcht. Muss gehorchen, schließlich konnte er sich fast ein Jahr lang erfolgreich vor familiären Aktivitäten drücken. Doch irgendwann ist es eben vorbei, dann kommt die Pflicht vor der Kür. Und so wird der ohnehin schmale Urlaub geopfert, die wenige Freizeit, die im täglichen Sklavendasein noch vorhanden ist, um die lange Reise quer durch die Lande anzutreten und die Familie mit ein wenig persönlicher Anwesenheit zu beglücken. Gut, alte Frauen haben eben das mehr oder weniger starke Bedürfnis, die Nachkommenschaft doch noch mal zu sehen, es könnte durchaus das letzte Mal sein. Wahrscheinlich ist es deswegen immer wieder der Drang zu fragen: „Sohn, wann kommst du endlich mal wieder vorbei, wann sehen wir uns, du machst dich so rar.“ Klar, mit Absicht. Und nicht einmal mit dem Hintergedanken: Willst du gelten, mach dich selten.

Nein, das ist es nicht, was das eigene Ich vor familiären Verpflichtungen fern hält. Ist es eher die Erinnerung, je älter die Erzeuger werden, man selbst ebenfalls älter wird – was zwangsweise nicht ausbleibt – der Jungbrunnen wurde schließlich noch nicht gefunden? Nein, nein, nein. Es ist die Flucht vor den Gegensätzen, die Flucht vor Bindungen, die man nie wollte und doch bekam. Ich mag meine Familie wirklich, aber meist noch mehr, wenn ich sie nicht ständig um mich herum habe. Und eine längere Pause tut wirklich gut. Schließlich reicht es persönlich, wenn der obligatorische Anruf pflichtgemäß und wenn auch unregelmäßig erledigt wird. Mütter sind ja so neugierig, auch wenn die immer gleichen Fragen mit den immer gleichen Antworten bedacht werden.

So ist es eben wieder an der Zeit, sich per Stahlross quer durch die Bananenrepublik schieben zu lassen, mit Menschen, vielen Menschen auf einem Haufen, was in einer Unerträglichkeit gipfelt, je mehr diese einen auf die Pelle rücken zwecks Platzmangel. Einmal clever sein war die Devise, und für ein wenig schmales Geld mehr die erste Klasse buchen, in der Hoffnung, dass die zwecks Geldmangels bei der Mittelschicht nicht so stark frequentiert wird. Der nächste Denkzettel. Von wegen erste Klasse und gemütlich. Eingepfercht in einem Abteil mit unbekannten Menschen. Wenigstens sind die Sitze einen Tick bequemer als in der sonst üblichen Massenklasse der Zweiten Klasse. Die First Class ist auch nicht mehr das, was sie einmal war – zumindest in Zügen. Allerdings bietet das nur geringfügig teurere Ticket einen Luxus. Während der schnelle Zug, kurz genannt ICE, noch erstklassig voll ist, so wird wohl die Regionalbahn in der ersten Klasse (zumindest hoffentlich) vom üblicherweise dort reisenden Pöbel ohne Klasse verschont bleiben. Hallo Welt.

So habe ich meine Welt verlassen, meine Festung, mein kleines Reich, in dem ich von der haarigen Herrin des Hauses geduldet werde. Die Haare hab ich natürlich wieder mitbekommen, so dass meine Familie davon auch etwas haben wird. Wir sind da ja nicht so, wir teilen gerne, wir geben gerne ab. Die Landschaft fliegt vorbei, die Gerüche mitmenschlicher Reisender durch die Nase. Wo viele Menschen weilen, weilen auch ihre körperlichen Abfälle in Form von Ausdünstungen, das die, durch die Raucherei nicht beeinträchtigte und dennoch sensible Nase aufs äußerste und zutiefst beleidigt wird. Die akustische Quälerei bleibt wie immer und – welches verfluchte Wort ersetzt eigentlich „gottlob“? – wortlos eben verschont durch die allgegenwärtige akustische Beschallung musikalischer Natur.

rail-1603553_640Währenddessen grinst er mich an, der Koffer gegenüber. So ein alter, uriger Reisekoffer für das Reisen mit Stil, nicht mit Stiel auf Rädern.
Die Jugend daddelt, wie es sich gehört – über das zugeigene WLan, dessen ich mich als unwürdig erwiesen habe dank meiner Weigerung, dieses käuflicherweise und quasi imaginär zu erwerben. Frau mit Geld schickt Nachrichten, Frau ohne Geld liest. Zeig mir deine Brille und ich errate, wieviel Geld du hast. Ok, ein wenig mehr als nur die Brille gehört schon dazu, um den gesellschaftlichen Status abzulesen. Der Koffer hilft auch dabei. Die legere oder adrette Kleidung. Kleider machen eben und doch – die Leute. Damals wie heute. Und der russische Kampfpanzer walzt durch die Gänge und kontrolliert Fahrkarten. Herrlich. Arme Augen.

Ach wie vermisst man doch das übliche und gewohnte Text-Programm, doch es bleibt verschlossen und will sich partout nicht bearbeiten lassen, nicht ohne die Daten aus dem Netz der Netze zu saugen, ohne Zugang zur Zivilisation, die uns heute ausmacht. Die Gedanken tanzen Tango und die Stimmen, die etlichen unzählbaren im Kopf schnattern durcheinander.

Das letzte Mal am Hafen, ich stand vor der Fähre. Es hätte nicht viel gefehlt, ich wäre an Bord gewesen und damit mein altes Leben hinter mir gelassen. Einfach ohne alles, ohne Vorbereitung, nur mit dem Hab und Gut am Körper aus der Wahlheimat verschwinden mit dem Vorsatz, nie wieder zu kommen. Es war nur ein kleiner Schritt, der bis dahin fehlte. Ein ganz, ganz kleiner Schritt. Und doch war da wieder diese unsagbare innere Stimme der Vernunft – stärker als der faule Schweinehund, die wieder alle anderen übertönte und den Fuß zurückhielt, das Wagnis einzugehen. Dieser eine kleine Schritt hätte alles verändern können. Hätte mich aus dem Frondienst gerissen, aus dem Kreis der guten und anderen Bekannten und auch aus der Familie und ich wäre gelandet, irgendwo. Dort, vielleicht auch da – aber nur nicht hier. In diesem verfluchten kleinen Abteil, mit Menschen um mich herum. Fremde Menschen. Frondienstleistende und Sklaven unserer Zeit.

Wenn man nicht nur gedanklich meckert, sondern auch mal nebenbei statt des gedanklichen Meckerns auch mal den Grips anstrengt und die sonst stetig anwesende kindliche Neugier, dann hätte meinereiner schon kurz nach den ersten Zeilen hier festgestellt, dass es in der ersten Klasse des ICE sehr wohl ein Gratis-WLan gibt. Halleluja, der Tag ist gerettet. Ich kann wieder so arbeiten, wie ich es gewohnt bin. Nicht das ich nicht flexibel genug wäre, auch mit einfachsten Mitteln auszukommen. Wenn man nur die einfachen Mittel hat, ist es auch kein Problem. Wen allerdings die eleganteren und bequemeren Lösungen vorhanden sind, dann sollen die zum Henker und Teufels noch eins auch stets und ständig nutzbar sein. Vor allem wenn sie bezahlt worden sind. Bezahlt gewesen worden sind?

Egal, die Aufregung hat sich gelegt und der Zug gewechselt. Halleluja. Wie geil ist das denn? Vorbei am Pöbel, dem ich sonst auf Bahnfahrten angehöre, der sich mangels ausreichender Zuglänge und damit weniger Sitzen schon in den Gängen stapelt – wie vorhergesehen – in der ersten Klasse. Nicht alleine, das wäre wohl zu schön gewesen. Nein, aber immerhin vier ganze Plätze für mich und wenn ich durch die Tür nach draußen sehe, kann ich mir das spöttische Grinsen nicht so ganz verkneifen. Einmal WER sein. Und wenn es im Regionalzug in der ersten Klasse ist. Aber – das sind mir auf der Strecke die 10 Teuronen schon wert, die ich mehr löhnen musste. Einmal nicht der Pöbel sein sondern in einer eigenen kleinen Welt residieren – in diesem Fall in einem einzigen Glasabteil mit viel Platz und ohne gestapelte Menschenmassen, nein, das hat wirklich etwas für sich. Werte Lords, werte Ladys, werter Pöbel …

 
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