Verstanden?

Die Menschen lesen gerne. Seit es einheitliche Buchstaben gibt und die Wörter einfach gebannt werden können und nicht mehr umständlich in Stein gemeißelt werden müssen, ja, da macht lesen einfach Spaß.

Lesen ist die eine Sache. Wenn es einmal gekonnt wird, dann wird es nie verlernt. Die andere Sache ist die, das gelesene auch zu verstehen, wie es gemeint ist. Nicht einfach nur interpretieren nach dem eigenen Gusto, sondern auch das verstehen, was der Autor meint. Und da trennt sich der Weizen vom Spreu. Das Offensichtliche zu erkennen, das ist einfach. Gut, es gibt einige, die haben sogar damit ihre Schwierigkeiten, aber das ist nur rudimentär.

Viel schwieriger ist es, zwischen den Zeilen zu lesen. Beispielsweise die Antwort auf eine Beschwerde, die sich textlich und von den Argumenten her absolut stimmig erweist, aber vom eigentlich gesagten her – nichts aussagt. So wäre zum Beispiel für die Norddeutschen ein weiterer Facebook-Button wichtig, wenn das ganze Dilemma schon ausgebaut wird: Zur Kenntnis genommen. Das reicht, mehr muss dazu nicht gesagt werden. So wie eben auch in der Antwort auf die Beschwerde: zur Kenntnis genommen. Bestenfalls toleriert, normalerweise ignoriert.

Interessanter sind die Menschen, die aus einem Text etwas ganz anderes herauslesen, als dass, was nicht nur offensichtlich, sondern auch zwischen den Zeilen gesagt wurde. Der klassische Fall der Fehlinterpretation. Der Sinn entstellt, wie es dem eigenen Sinn gern in den selbigen kam. Zitate sind dabei auch so klassisch. Bekanntester Fall unter den Menschen, die aufpassen und auch mal Dinge hinterfragen, ist Heinrich Heine’s Ausspruch:

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
bin ich um den Schlaf gebracht.

277px-Neue_Gedichte_(Heine)_274Gern genutzt, um auf die allgegenwärtige Situation in der Heimat hinzuweisen und doch nichts anderes, als die Sehnsucht des Dichters nach Mama. Völlig fehlinterpretiert, weil das Offensichtliche gar nicht gemeint war. Oder doch? Wer weiß schon genau, was Heine damit wirklich sagen wollte. Denn offensichtlich sind die ersten zwei Zeilen der heimat geschuldet, während der Rest der weinerliche Ruf nach Mama ist.

Und genau da liegt das Problem. Denn Dichter in der Vergangenheit haben sich oft den Spaß daraus gemacht, mehr hinter ihren Texten und Werken zu verstecken, als offensichtlich und augenscheinlich gemeint war. Es muss der ganzen Sache nur ein aussagekräftiger Titel vorangestellt werden, der unmissverständlich darlegt, was jeder sich dabei zu denken hat. Doch lässt man beim Lesen den Titel weg, ist der ganze Text, das Gedicht völlig frei zur eigenen Interpretation.

Es ist wahrlich nicht einfach, zwischen den Zeilen zu lesen und nicht jeder, nur die Wenigsten, können das auch wirklich. Die Argumente, zwischen Offensichtlichkeiten versteckt, der Wink mit dem Zaunpfahl hier, die kleine Spitze dort. Und schon ergibt es einen anderen Sinn, als der, den man zu sehen glaubt. Glauben heißt eben nicht wissen. Und in den Kopf des Schreibers hineinblicken, das geht nun wirklich nicht. Noch gilt: die Gedanken sind frei. Ebenso frei wie die Möglichkeit der Interpretation.

Doch wenn man den Sinn dahinter nicht wirklich verstanden hat, gilt ebenfalls eine Regel. Eine goldene: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal – die Fresse halten. Nicht jeder hat Verständnis für die eigenen Auswüchse der Fantasie, die oft deplatziert sind und doch dazu platziert werden. Nicht müssen.

Die Quintessenz des Ganzen: Texte verstehen und Texte verstehen, das sind zwei grundsätzliche verschiedene Paar Schuhe. Und niemand sollte sich den Schuh anziehen und sagen: ich hab es verstanden.

 
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