Neulich, irgendwo in den Eingeweiden eines Hauses:
„Sehr geehrte Mitglieder der versammelten Clans unserer Sippschaft. Ich habe Euch heute alle zusammengerufen, damit wir für die Zukunft uns beratschlagen können. Unsere Lieferanten haben uns nun zum letzten Mal ein Bein gestellt, unser Überleben ist in Gefahr. Wir müssen für die Zukunft von uns und unserer Kinder vorsorgen. Ich sage euch, so wie bisher kann es nicht weiter gehen. Ich erwarte also konstruktive Vorschläge. Zuerst müssen wir uns aber Klarheit verschaffen über die derzeitigen Zustände. Irgendwelche Wortmeldungen?“ Schon geht die Meckerei los, aber nicht einzeln, sondern alle fröhlich durcheinander. Ein Radau dröhnt durch den Versammlungssaal. Der Vorsitzende der Versammlung kennt das Spielchen schon und putzt sich in aller Seelenruhe die Barthaare. `Lass sie sich erst einmal austoben, dann können wir geordnet weiter verfahren` ist sein Spruch bei solchen Gelegenheiten, meist zu sich selbst, um die Ruhe zu bewahren. Der Lärm verebbt langsam und schon sind zusammenhängende Wortmeldungen herauszuhören. Der Vorsitzende streicht noch einmal über die Barthaare, brüllt einmal kurz ein energisches „RUHE!“ in die Runde, woraufhin sich die ganze Versammlung tatsächlich beruhigt. „Schön einzeln und nicht alle zusammen, man versteht sein eigenes Wort nicht mehr und es kräuseln sich die Barthaare, wenn ihr alle durcheinander brüllt. Ein wenig mehr Ordnung und Disziplin bitte. Das gilt vor allem für die Jugendlichen unter euch. Jeder, der etwas zu vermelden hat, hebt die Pfote und ich gewähre euch Rederecht.“ Nun war es wirklich ruhig in dem Saal, und zögerlich erhoben sich nacheinander mehrere Pfoten. „Ok, Heinz, du als erster, dann Barbara“ legt er die Reihenfolge fest. Es wird bei den zwei Redner bleiben, dass weiß er schon. Was es zu sagen gibt, haben diese beiden schon vorher mit ihm abgesprochen. Aber um den demokratischen Schein zu wahren, wiederholt er dieses Spiel jedes mal bei jeder Versammlung der Clans.
Heinz richtet sich auf, räuspert sich kurz und beginnt mit der Rede, sorgsam bedacht auf die richtige Wortwahl: „Es gibt nur zwei gravierende Probleme. Erstens: Immer mehr Einwohner des Hauses halten sich Katzen. Vor allem dieser Typ im Erdgeschoss. Das macht es für uns schwieriger, an die Vorräte zu kommen. Und zweitens: Immer mehr Vorratslager sind leer. Die Menschen horten einfach nicht mehr genügend Nahrungsmittel. Und wenn, dann sind diese so fest verpackt, dass wir nicht mehr daran kommen. Unsere Vorratslager sind leer. Mein Vorschlag lautet also, dass wir ausziehen sollten, eine neue Bleibe suchen, in der wir wieder richtig zuschlagen können und unsere Mäuler stopfen.“ Heinz setzt ich und Barbara steht auf. „Genau dieser Typ im Erdgeschoss ist das absonderlichste Beispiel der Spezies Mensch. Keine Nahrungsmittel, weder in den Hängeschränken, noch im kalten Schrank. Ich möchte mal wissen, wovon der sich ernährt. Und dann gibt er seiner Katze freien Zugang zu allen Räumlichkeiten und wir können nirgends ran. Seit sein Nachbar über ihm den Fußboden renoviert hat, kommen wir da auch nicht mehr durch. wir müssen wohl oder übel ausziehen. Allerdings gibt es nur wenige Fussmärsche weiter etwas, was die Menschen als Restaurant bezeichnen und wo sich die Wänste vollstopfen. Das wäre der ideale Ort für uns.“ Zustimmendes Gemurmel setzt ein, doch dann richtet sich ein starker Jugendlicher auf und brüllt kurz „Ich stelle ein Misstrauensvotum gegen den Vorsitzenden! Das hat hier nichts mit Demokratie zu tun, es ist alles abgesprochen. Wir sollen ausziehen und die stellen es so dar, als wenn wir keine Wahl hätten“. Der Vorsitzende und Patriarch richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Klein Erwin, nicht schon wieder einen Versuch, mich zu stürzen. Halt endlich deine Schnauze. Deine Ränke funktionieren hier nicht, es wird jetzt abgestimmt über dein Votum und danach über die Maßnahme der Auswanderung. Irgendjemand dafür, dass ich abtrete?“ Kein Mucks, keine Pfote erhob sich – alles blieb mäusestill. Der Patriarch lächelte innerlich. „Dachte ich es mir schon. Ich bleibe also amtlicher Vorsitzender. Und nun zur Auswanderung. Jemand dagegen?“ Wieder kein Mucks, keine Pfote zu sehen, ausser Erwin, der einsam und verlassen als einziger und trotzdem hoch erhobenen Hauptes sich aufgerichtet hatte. „Gut, damit ist es beschlossen, wir hauen hier ab, wir haben hier nichts mehr verloren. Alle mir nach!“
Durch alle Ritzen und Löcher des alten Hauses strömt nun die große Mäusescharr, allen voran eine große, graue Maus. Nach einiger Zeit erreichen sie das Restaurant und stürzen sich hinein. Drinnen angekommen, schauen sie sich gemütlich um. Doch nun ist es an den Katzen, sich zu stürzen – und zwar auf die Mäuse. Ein Festmahl ohnegleichen, ein Spaß für die ganze Katzenfamilie, die dort haust. Doch ganz allein in dem nun fast mäusefreien Haus, der alten Behausung der Scharr, sitzt eine einsame Maus vor dem Kühlschrank und zittert vor Hunger.
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